Als letzter konstituiert, als erster wieder aufgehoben

175 Jahre Landtag Hessen-Homburg

21. April 2024

Bad Homburg (pit). Zugegeben: Auf den ersten Blick mag eine Veranstaltung mit der Überschrift „175 Jahre Landtag von Hessen-Homburg“ ein wenig spröde klingen. Dass sie es in der Umsetzung in keiner Weise sein muss, bewies der Verein für Geschichte und Landeskunde Bad Homburg mit seinem rundum gelungenen und ausgesprochenen kurzweiligen Festakt.

In medias res ging es nach einer kleinen musikalischen Einstimmung durch das Ensemble Four4strings vollkommen stilecht mit Michael Scheibel und Rainer Maria Ehrhardt von der Volksbühne Bad Homburg. Während der eine in der Rolle des Geheimrats Dr. Christian Bansa die Eröffnungsrede zur konstituierenden Sitzung des Parlaments am 12. April 1849 verlas, zitierte der andere die Erwiderung des Alterspräsidenten Johannes Schwenk. Beide zeigten sich „lebhaft durchdrungen von der Bedeutung, die in diesem Acte“ liege. Immerhin oblag ebendiesem Landtag die ehrenvolle Aufgabe, eine „landständische Verfassung“ zu erarbeiten.

Mit einigem Schmunzeln quittierte das Publikum, dass beide Redner sich die „hochgeehrten Herren“ ansprachen, was die an diesem Abend anwesenden Damen ausschloss, jedoch allein der damaligen Zeit des ausschließlichen Männerwahlrechts geschuldet war. Es gab jedoch auch Passagen, die durchaus an „moderne“ Zeiten erinnerten. Zum Beispiel erklärte Bansa einst: „Ueber die Finanzlage des Landgrafthums wird Ihnen, hochgeehrteste Herren, offen und rückhaltslose Vorlage gemacht werden. Dass unser Staat in finanzieller Beziehung von den Nachtheilen nicht unbetroffen geblieben ist, von welchen fast alle deutschen Staaten betroffen wurden, bedarf bei den offen vorliegenden in den Ereignissen des verflossenen Jahres begründeten Ursachen kaum einer Erwähnung.“

Gregor Maier, Vorsitzender des Vereins für Geschichte und Landeskunde.

Zahlreiche Ehrengäste

Gregor Maier, Vorsitzender des Vereins für Geschichte und Landeskunde, begrüßte anschließend ausdrücklich auch die anwesenden Damen im Publikum und freute sich in Anbetracht dessen, dass der Saal, in dem die Sitzung einst stattfand, gedrängt voll gewesen sei: „Er war bestimmt nicht so voll wie hier.“ Immerhin waren gut 200 Gäste zu diesem Festakt gekommen. Und dass der Landgraf selbst einst nicht an der Sitzung teilnahm, sondern seinen Regierungschef schickte, werde an diesem Abend sogar überkompensiert: „Durch Sie und zahlreiche Ehrengäste.“ Zu ihnen gehörten unter anderem Angela Dorn-Rancke, MdL und Vize-Präsidentin des Hessischen Landtags, die Landtagsabgeordneten Elke Bart und Sebastian Sommer, Landrat Ulrich Krebs, Kreistagsvorsitzender Renzo Sechi und viele Stadtverordnete und Magistratsmitglieder der Stadt Bad Homburg.

Gerne gab Gregor Maier noch einige Hintergrundinformationen zum Landtag Hessen-Homburg: „Als der Verein vor zwei Jahren damit begonnen hat, Materialien hierzu zusammenzustellen, ist uns aufgefallen, wie lückenhaft die Dokumentation des einstigen Landtags war.“ Immerhin habe Hessen-Homburg eine Sonderstellung, denn er war der letzte Staat in Deutschland, in dem eben dieser Landtag konstituiert wurde. Jedoch konnte der Verein bei seinen Arbeiten so manche Lücke schließen. Sogar so manche parlamentarische Sternstunde – allerdings auch ganz Gegenteiliges – sei dabei zum Vorschein gekommen: „Dafür, dass wir das alles nachvollziehen können, geht der Dank an den Landtag.“

Kreistagsvorsitzender Renzo Sechi.

„Unsere Demokratie wurzelt in der Kommune“

In seinem Grußwort ging Renzo Sechi auf das Parlament im Allgemeinen und das von Hessen-Homburg im Speziellen ein. Auch wenn nachzulesen sei, dass dieser verfassunggebende Landtag der „späteste, kleinste, unbedeutendste und letztlich erfolgloseste Landtag“ in der Geschichte des hessischen, vielleicht sogar des gesamtdeutschen Parlamentarismus gewesen sei, sollte er nicht links liegen gelassen werden. „Er war von den Bürgern hartnäckig erkämpft worden.“ Er sei zwar denkbar klein gewesen, doch „er wurde ernst genommen“.

„Das zeigen die Reden, die wir soeben gehört haben, das zeigen die Petitionen aus der Bürgerschaft, die an das Parlament gerichtet wurden, und das sehen wir auch in der konkreten Arbeit der Abgeordneten, die wir in den Sitzungsprotokollen nachvollziehen können. Er war ein bürgernahes Parlament – ein Abgeordneter auf 1.500 Einwohner“, führte Sechi aus und verriet: „Unser Kreistag kommt im Vergleich dazu auf einen Schlüssel von 1 zu 3.400. Für bezeichnend halte er es, dass der Homburger Landtag nicht gleich in die Verfassungsdebatte eingestiegen sei, sondern zuerst die Gemeindeordnung beraten habe. Denn: „Der Wurzelgrund der Demokratie ist die Kommune.“

Bürgermeistern Dr. Oliver Jedynak.

Kurz mal Landeshauptstadt

Bürgermeister Dr. Oliver Jedynak meinte bei seinem Grußwort zunächst einmal augenzwinkernd: „Heute dürfen wir uns für einen kurzen Moment als Landeshauptstadt fühlen.“ Denn der Landtag damals „mag noch so klein und unbedeutend gewesen sein, doch er hat seinen Platz in der Landesgeschichte.“ Er freute sich im Nachhinein, dass dieser Landtag seine Protokolle nicht dem Landesarchiv übergeben habe, wie viele andere, sondern der Stadt: „Ansonsten wären sie verbrannt.“ Insofern stieß er die Überlegung an, ob es nicht in „Stadt- und Landesarchiv“ umbenannt werden sollte.

Ein leidenschaftliches Plädoyer für die Demokratie

Zu Beginn ihrer Festrede überbrachte Angela Dorn-Rancke die Grüße der Landtagspräsidentin Astrid Wallmann. Sie nutzte die Gelegenheit, die damaligen ersten Schritte in Richtung Demokratie zu würdigen: „Sie ist alles andere als selbstverständlich, sie ist fragil und muss jeden Tag neu gelebt, gestärkt und teilweise auch erkämpft werden.“ Es seien mutige, engagierte Menschen gewesen, die den monarchistischen Winter zum Tauen brachten: „Und trotzdem erinnern wir uns an diese viel zu selten.“ Männer in dieser Gegend seien Johann Georg Hamel, Heinrich Jacob Will oder Karl Friedrich Wilhelm Birkenstock gewesen: „Und ich bin sicher, es gab auch Frauen, die man aus dieser Gegend nennen sollte.“ In Frankfurt sei es die Unternehmergattin Clotilde Koch-Gontard gewesen, die ein leidenschaftliches Engagement für die Paulskirche zeigte. Es müsse sehr schmerzhaft für diese Frauen, die die Veränderung zwar mit erkämpften, gewesen sein, ihren Miterfolg in den Parlamenten nur auf den Zuschauerbänken verfolgen zu können: „Wir sollten nicht den Fehler machen, die Revolution 1848 auf die mutigen Männer zu reduzieren, nur weil sie die größere Macht besaßen.“

Zwar erkenne man heute, das Vieles, was damals zum ersten Mal in Deutschland erreicht worden sei, noch demokratische Mängel und – noch wichtiger – nicht lange Bestand gehabt habe: „Aber wir sollten milde sein, die damaligen Verfassungen waren ein Bild ihrer Zeit. Die Ideen und Grundrechte waren trotz der Mängel geradezu revolutionär und bilden bis heute den Kern unserer Demokratie.“

Angela Dorn-Rancke, MdL und Vizepräsidentin des Hessischen Landtags.

Demokratie muss gewürdigt und gepflegt werden

Zudem: „Wir sollten demütig innehalten und uns vergegenwärtigen, dass wir alle hier in diesem Raum in diese Rechte und Freiheiten hineingeboren wurden, sie nach dem größten Gräuel der Menschheit sogar zurück geschenkt bekamen und diese für selbstverständlich nehmen“, so Angela Donr-Rancke. Wie schnell jedoch aus einer solchen Freiheit Unterdrückung, aus Frieden Krieg, aus einer Demokratie eine Diktatur werden könne, lasse sich an der eigenen Geschichte dieses Landes und in vielen Ländern dieser Welt aktuell ablesen.

Daher sei Gleichgültigkeit regelrechtes Gift: „Demokratien sterben leise, Gleichgültigkeit bedeutet schleichend Akzeptanz. Daher brauche es einen Schulterschluss der Demokrat:innen, „ein Einstehen und Aufstehen der Anständigen für die Demokratie“.

Nicht nur 175 Jahre Landtag Hessen-Homburg gebe es in diesem „denkwürdigen“ Jahr zu begehen. Grundgesetz, Gründung der Bundesrepublik Deutschland, Frieden und Freiheit – seit 35 Jahren auch für die Menschen in der ehemaligen DDR – haben ebenfalls 75. Geburtstag: „Seit 75 Jahren schützen unser Grundgesetz, unsere Verfassung und unsere Parlamente genau die Werte, die sich in den Forderungskatalogen des Vormärz finden.“ Und noch ein weiteres Datum in diesem Jahr sei für die Demokratie wichtig: die Europawahl am 9. Juni: „Dass unsere Demokratiegeschichte in Europa sogar zu einem europäischen Parlament geführt hat, dass diese erfolgreiche Geschichte uns und den uns umgebenden Ländern Frieden und Freiheit und Wohlstand garantiert – das ist für mich das eigentliche Wunder.“

Die Verfassung Hessen-Homburg

Professor Dr. Barbara Dölemeyer sprach schließlich in ihrem ebenso informativen wie kurzweiligen Vortrag über die Hessen-Homburger Verfassung von 1849/1850 an sich: „Bekanntlich forderte Artikel 13 der Wiener Bundesakte vom 8. Juni 1815, dass jeder Deutsche Bundesstaat eine ‚landständische Verfassung‘ haben sollte, allerdings ohne weitere Konkretisierung.“ Bereits 1814 habe das Herzogtum Nassau 1814 eine Konstitution erhalten, Bayern und Baden seien 1818 gefolgt, Württemberg 1819, Hessen-Darmstadt 1820: „Die deutsche Demokratiegeschichte beginnt nämlich schon vor der 1848er Revolution; ich nenne das ‚Fingerübungen des Parlamentarismus‘.“

Professor Barbara Dölemeyer.

Drei Landgrafen seien, eher unfreiwillige, in die Verfassungsgebung involviert gewesen. Landgraf Philipp (reg. 1839-1846), an den 1841 die erste Forderung gestellt worden sei, habe zunächst etwas vage versprochen, eine landständische Verfassung zu verleihen, habe hierfür jedoch keine Notwendigkeit gesehen. Sein liberal eingestellter Nachfolger Gustaf (1846-1848) habe den Auftrag erteilt. Jedoch nicht von sich aus, sondern unter dem Eindruck der Revolutionsereignisse. Landgraf Ferdinand schließlich, der 1848-1866 regierte, „war sozusagen die Reaktion in Person und hob die Verfassung 1852 auf“.

Stationen der Verfassung

Mitte März 1848 habe der Gießender Professor Heinrich Karl Jaup den Verfassungsauftrag erhalten. Der liberale Jurist und Abgeordnete des Darmstädter Landtags habe bereits an der hessischen Dezemberverfassung von 1820 mitgearbeitet und könne diese gewissermaßen als Vorbild der Homburger Konstitution betrachtet werden.

„Die Abgeordneten zum konstituierenden Homburger Landtag wurden in relativ liberaler Weise gewählt: Ein Volksvertreter war auf je 1.500 Einwohner zu bestimmen, immerhin in direkter Wahl und durch alle ‚stimmfähigen Staatsbürger‘.“ Unter anderem durch den Tod Landgraf Gustafs im September 1848 habe sich die Sache jedoch verzögert, der Entwurf sei am 20. Februar 1849 im Regierungsblatt veröffentlicht worden, der Landtag sei am 12. April zusammengetreten und habe bis zum 12. Mai und dann wieder vom 26. November bis 15. Dezember 1849 getagt.

Am Entwurf Jaups seien vom Landtag Modifikationen vorgenommen worden, der Geheime Rat habe die überarbeitete Fassung am 4. Dezember 1849 nochmals vorgelegt: „Zwei Streitpunkte gab es mit dem Landgrafen. Die Abgeordneten hatten verlangt, den Zusatz ‚Von Gottes Gnaden‘ zu streichen, dagegen stellte sich Ferdinand mit der Begründung, die Formel drücke nur die ‚christlich ergebene Anerkennung der göttlichen Ordnung‘ aus, ‚auf welcher … Höchstihre Herrscherrechte sowohl wie alle guten und weisen Einrichtungen der Gesellschaft überhaupt beruhen‘. Der Zusatz blieb bestehen“, berichtete Barbara Dölemeyer. Wichtig sei dem Fürsten ebenfalls gewesen, jeden Bezug zur Paulskirchenverfassung und zum „Reich“ zu vermeiden.

Grundrechte wurden übernommen

Allerdings sei der Grundrechtskatalog der Reichsverfassung zum Tragen gekommen. Nahezu wortgetreu seien unter anderem folgende Grundrechte übernommen worden: Gleichheit vor dem Gesetz, persönliche Freiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung, Eigentumsfreiheit, Glaubens- und Gewissensfreiheit – „in diesem Zusammenhang ganz wichtig: die staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden“, fügte die Rednerin an – des weiteren Zivilehe und Zivilstandsbücher, Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit.

„Der konstituierende Landtag, dessen Jubiläums wir heute gedenken, beschloss aber nicht nur den Verfassungstext, sondern – und das ist viel wichtiger – einige weitere Gesetze“, so Barbara Dölemeyer. Sie seien es gewesen, die das Erbe der Revolution bewahrt hätten: das Gesetz betreffend die Bezirksräte, eine neue Gemeindeordnung für Amt Homburg und Oberamt Meisenheim zusammen, die Einführung von Geschworenengerichten: „Wirtschaftlich von Bedeutung waren vor allem das Gesetz über die Ablösung der Zehnten und Grundrenten und die Einführung der Allgemeinen Deutschen Wechselordnung.“ Am 3. Januar 1850 schließlich seien Verfassung, Wahlgesetz und Geschäftsordnung im Regierungsblatt publiziert worden.

Bereits 1852 wieder aufgehoben

Jedoch: „Nachdem die Frankfurter Nationalversammlung 1849 auseinandergegangen und der Deutsche Bund wiederhergestellt worden war, hob Landgraf Ferdinand bereits am 20. April 1852 die Homburger Verfassung förmlich auf.“ Andererseits: „Die Regelungen über Staatsbürgerrechte blieben aufrecht, ebenso die Auswanderungsfreiheit sowie die Bestimmungen über persönliche Freiheit (Schutz vor Verhaftung, Haussuchungen, Beschlagnahme von Briefen); die entehrenden Strafen wie Pranger und Brandmarkung blieben aufgehoben. In Wirksamkeit blieben die Bezirksräte, ihre Aufgaben wurden erweitert und sie bildeten eine Art Parlamentsersatz. Die neue Gemeindeordnung blieb ebenfalls in Kraft: die Bürgermeister wurden nun nicht mehr vom Landgrafen eingesetzt, sondern direkt gewählt.“ Man habe also hinter bestimmte Errungenschaften der Revolution nicht zurückgehen können oder wollen. Wesentlich seien die flankierenden Gesetze gewesen, die der Landtagsabschied festgehalten habe, von Dauer seien die Regelungen für die Entwicklung des Gemeinwesens gewesen.

„Um es pointiert zu sagen: der Verfassungstext selbst war nicht das Wesentliche, wesentlich waren die Landtagsberatungen, deren Abdruck im ‚Homburger Beobachter‘ auch der Allgemeinheit zeigten, wie Parlamentarismus funktioniert. Es war die Herstellung politischer Öffentlichkeit, das Bewusstwerden von Mitwirkungsmöglichkeiten“, führte Barbara Dölemeyer abschließend aus und zog folgendes Fazit aus der kurzen Geschichte der Homburger Verfassung: „Verliere nie das Vertrauen in Demokratie!“

Dr. Lutz Vogel vom Hessischen Institut für Landesgeschichte.

„Hessische Parlamentarismusgeschichte“

Zu guter Letzt konnte Dr. Lutz Vogel vom Hessischen Institut für Landesgeschichte noch ein wenig „Eigenwerbung“ machen: „Wir konnten vor 2,5 Jahren das digitale Archiv zur Geschichte der hessischen Parlamentsgeschichte freischalten.“ Hier können interessierte Besucher:innen zum Beispiel nachlesen, wer den jeweiligen Heimatort vor 200 Jahren vertreten habe oder wie Wahlkriese aussahen. „Es war uns ein Anliegen, Geschichte auch zu visualisieren und die Politik wieder in die Kommunen zu bringen“, so Lutz Vogel und fügte an: „Immerhin gibt es 14 Vorgänger des heutigen Hessischen Landtags – und Hessen-Homburg war einer davon.“

Unter dem unten genannten Link ist dort auch die jüngste Publikation des Vereins für Geschichte und Landeskunde Bad Homburg vor der Höhe zu finden: „Hessen-Homburgische Landtagsverhandlungen. Protokolle des verfassungsgebenden Landtags von Hessen-Homburg 1849“.