„Die Not war ein guter Lehrmeister“

Erste Fachtagung Gesundheit und Pflege im Kreis

Die Podiumsdiskussion mit vielen informativen Ausführungen und Anregungen schloss die erste, gelungene Fachtagung Gesundheit und Pflege im Rheingau-Taunus-Kreis ab. - Foto: RTK-Pressestelle

22. November 2022

Rheingau-Taunus-Kreis (ut). „Die Not war ein guter Lehrmeister“, stellt Jutta König fest. Denn während der Pandemie mussten in vielen Pflegeeinrichtungen mit „eingefahrenen, antiquierten Strukturen und seit Jahrzehnten praktizierten, nach den immer selben Muster vorgegebenen Tagesabläufen“ gebrochen werden, um die Situation zu meistern. „Alle Bewohnerinnen und Bewohnern müssen jeden Tag um Punkt 9 Uhr gewaschen am Frühstückstisch sitzen. Das ist so und war schon immer so“, erzählt sie. Für Individualität, Flexibilität, gar den Tagesrhythmus eines Menschen ist da wenig Platz. Nächtliche Kontrollgänge der Pflegekräfte in den Einrichtungen müssen sein, auch wenn sie die Nachtruhe der älteren Menschen stört. „In Einrichtungen, die diese Kontrollgänge stark reduziert haben, waren die Bewohnerinnen und Bewohner viel ausgeglichener. Das hat eine Untersuchung ergeben!“, berichtet die Referentin wortreich.

Roboter ersetzt nicht die Pflegekraft

Jutta König muss es wissen, denn schließlich ist sie examinierte Altenpflegerin, war Pflegedienst- und Heimleiterin, arbeitet als Unternehmensberaterin und Dozentin sowie Sachverständige und engagiert sich in der Forschung, um die Digitalisierung im Pflegebereich voranzubringen. So stellt die Powerfrau bei der ersten Fachtagung „Gesundheit und Pflege im Rheingau-Taunus-Kreis“, die von Kompetenzzentrum Pflege und der Gesundheitskoordination im Rheingau-Taunus-Kreis in Zusammenarbeit mit der Stadt Bad Schwalbach organisiert wurde und sich mit dem wichtigen Thema Gewinnung von Fachkräften in der Pflege befasste, fest: „Der Roboter ersetzt im kommenden Jahrzehnt nicht die Pflegekraft. Ich sehe in der Digitalisierung die Zukunft und in einem Aufbruch der verknöcherten Strukturen und von Arbeitsabläufen.“

Jutta König. – Foto: RTK-Pressestelle

Jutta Königs Plädoyer ist der Moment während der Tagung, in der eine oftmals eher deprimierende Debatte über ein selbstredend überaus ernstes, weil für die nahe Zukunft der Gesellschaft immanent wichtiges Thema, das einer dringenden Klärung bedarf, doch eine Spur Leichtigkeit, Genialität und auch Witz erhält. Es geht um nicht weniger als um die Frage: Wer übernimmt die Betreuung der in den kommenden Jahren ansteigende Zahl an Pflegebedürftigen? Da erzeugen ihre Worte an diesem Tag einen Funken, der so etwas wie eine optimistische Aufbruchstimmung unter den zirka 80 Anwesenden aus dem Pflege- und Gesundheitsbereich sowie Interessierten auslöst. Diese Stimmung sorgt in der Podiumsdiskussion jedoch auch für Forderungen. So soll „die Regulierungswut in der Pflege eingedämmt“, Freiheiten und Veränderungen zugelassen werden, wenn sie doch dem Wohlbefinden der Pflegebedürftigen dienen.

Jutta König kennt viele Pflegeeinrichtung aus eigener Anschauung, kennt die Dienstpläne und die sehr fest verankerten Tagesabläufe des Pflegepersonals. Das und die durchregulierten Arbeitsbedingungen lassen den Beruf der Pflegekraft als unattraktiv gelten. Deshalb fordert sie Mut für Veränderungen. Polarisierend, aber jederzeit engagiert und kenntnisreich zitiert sie aus Umfragen und Studien, um darzustellen, warum der Pflegeberuf unattraktiv ist. Welche Veränderungen wünschen sich die in der Pflege Tätigen, um „Lust auf diesen Beruf“ zu machen. „Es ist überraschenderweise gerade nicht die Bezahlung, die im Ranking der Wünsche an oberste Stelle steht“, sagt sie: „Gefordert werden Möglichkeiten einer optimalen Gestaltung der individuellen Arbeitszeiten sowie möglichst flexiblere Arbeitsbedingungen und abwechslungsreiche -abläufe insgesamt.“ Niemand wolle und könne „die eierlegende Wollmilchsau“ sein. Jutta König: „Also weg mit den alten Strukturen!“

Digitalisierung kann bei Neustrukturierung helfen

Bei der Neustrukturierung kann die Digitalisierung in der Pflege helfen. Schon heute finden computergesteuerte Medikamenten-Spender in der Praxis Anwendung, die zum Beispiel Fahrten von ambulanten Pflegediensten zu einem pflegebedürftigen Menschen erübrigen. Es gibt bereits WCs, die über den Urin automatisch Blutzucker und –druck messen und dies an die zuständige Stelle weitermelden. Spezielle Pflaster auf dem Bauch eines Patienten stellen den Füllungsgrad der Blase fest und melden, wann der zur Toilette gebracht werden muss. Jutta König: „Das erspart Arbeitsgänge der Pflegekräfte ein.“ Geräte stellen fest, wann ein bettlägeriger Mensch „umgelagert werden muss“. Der Einsatz solcher, digitaler Geräte schaffe zeitliche Freiräume für das Pflegepersonal, die sie für andere Tätigkeiten nutzen können. Durch eine Optimierung und den Einzug der Digitalisierung sei es eventuell möglich, dass der Bedarf an Fachkräften in der Pflege etwas geringer ausfalle, als derzeit prognostiziert.

Viele Stellen sind unbesetzt

Der Bedarf an Pflegekräften steigt im Rheingau-Taunus-Kreis nach den Berechnungen von Dr. Oliver Lauxen vom Institut für Wirtschaft und Kultur der Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt noch deutlich an. Schon aktuell sind viele Stellen im Gesundheits- und Krankenhaus-Bereich unbesetzt. Gravierender sieht es in der Altenpflege aus. Oliver Lauxen: „Es fehlen dort derzeit 118 Altenpflegerinnen und –pfleger und 36 Altenpflegehelferinnen und –helfer!“ Mit steigender Zahl an Pflegebedürftigen bis 2035 steigt auch der Bedarf an Fachkräften. Für den Krankenhaus-Bereich hat das Institut Strategien zur Fachkräftesicherung erarbeitet.

In seinem Vortrag ging Lauxen auch auf die Gewinnung ausländischen Fachkräften und deren Integration in unsere Gesellschaft ein. Dafür wurden zugewanderte Fachkräfte nach ihren Erfahrungen befragt, um eine beruflich-fachliche Integration zu ermöglichen. Die wird beispielsweise – neben der vorhandenen Sprachbarriere – noch durch die unterschiedlichen Berufsbilder im Krankenhaus-Bereich im Herkunftsland der Kräfte und hier in Deutschland erschwert.

Nach den Ausführungen von Dr. Lauxen berichtete Antje Gade vom Pflegequalifizierungszentrum Hessen über Möglichkeiten der Unterstützung bei der Gewinnung internationaler Pflege- und Gesundheitskräfte. Zudem war die Mitarbeiterbindung durch Zufriedenheit Thema eines Vortrages. Peter Kiel von EVIM Gemeinnützige Altenhilfe informierte über „Pflege im Quartier – Synergieeffekte kennen und nutzen“. Zum Abschluss gab es eine Podiumsdiskussion mit den Referent:innen, moderiert von Beate Sohl, der Gesundheitskoordinatorin im Kreis. Organisiert hatten die Fachtagung, für den es viel Lob von Seiten der Anwesenden gab von Elke Jörg-Pieper, Ellen Philipp und Carmen Mathias vom Kompetenzzentrum Pflege des Rheingau-Taunus-Kreises: „Die Fachtagung war sehr informativ. Interessante Vorträge. Wir nehmen viel Neues mit“, so zwei Teilnehmerinnen.