80 Fachkolleg:innen diskutieren über Gedenkstätten und Erinnerungsarbeit in hessischen Archiven

43. Hessischer Archivtag - Auch in Zukunft: Verantwortung für die Vergangenheit

Thorsten Schorr, Erster Beigeordneter des Hochtaunuskreises, Dr. Peter Quadflieg, VdA Hessen, Staatssekretärin Ayse Asar, Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst, sowie Dr. Dominik Motz, VdA Hessen (vlnr). - Foto: HTK-Pressestelle

18. Juli 2022

Hessen (ut). Mit den Worten „Endlich wieder Archivtag eröffnete der neu gewählte Vorsitzende des Verbandes deutscher Archivarinnen und Archivare (VdA), Landesverband Hessen, Peter Quadflieg, am 12. Juli 2022 die hessische Verbandstagung in Bad Homburg. Nach zwei Jahren pandemiebedingter Zwangspause kamen 80 Kolleg:innen aus Archiven aller Sparten und Größen aus ganz Hessen in das Forschungskolleg Humanwissenschaften.

In malerischer Atmosphäre oberhalb des Kurparks, traten nach den einführenden Worten des Landesvorsitzenden Dr. Peter Quadflieg (Stadtarchiv Wiesbaden) zunächst Thorsten Schorr, Erster Beigeordneter des Hochtaunuskreises, und Staatssekretärin Ayse Asar vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst für Grußworte ans Rednerpult. VdA-Bundesschatzmeister Dr. Christian Helbich übermittelte die Grüße des Bundesvorstandes.

Schorr verwies in seinem Grußwort auf die Bedeutung der Kreisarchive im Allgemeinen und des Kreisarchivs Hochtaunuskreis im Speziellen. Dabei konzentrierte er sich vor allem auf deren Vermittlerrolle: so als Ansprechpartner für kleinere Kommunalarchive, aber auch gegenüber der Öffentlichkeit als regionalhistorisches Zentrum: „Es ist ein gutes Zeichen, dass in den letzten Jahren hier etwas Bewegung in die Archivlandschaft gekommen ist und heute, wenn ich richtig informiert bin, immerhin 9 der 21 Landkreise in Hessen ihr schriftliches Kulturerbe eigenverantwortlich pflegen. Ich kann an dieser Stelle gerne und eindringlich für die Institution „Kreisarchiv“ werben: zum einen im Eigeninteresse der Kreisverwaltungen, zum anderen aber auch mit Blick auf die Städte und Gemeinden, gerade im ländlichen Raum.“

Die Bedeutung der Archive im Kontext der Erinnerungskultur

Staatssekretärin Asar betonte in ihrem Grußwort die Bedeutung, die Archiven im Kontext der Erinnerungskultur zukommt. Sie seien, so die Staatsekretärin, Rückgrat und Fundament jeder gegenwärtigen und zukünftigen kritischen wissenschaftlichen historischen Forschung und damit ein zentraler Baustein auch für gesamtgesellschaftlichen Kampf gegen Extremismus und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Diesen Auftrag hatte zuvor auch schon Peter Quadflieg hervorgehoben: „Archive sind als offene Häuser der historischen Forschung und als Träger zielgruppenspezifischer Angebote der Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit relevante Vermittler der Gedenk- und Erinnerungsarbeit im analogen, wie auch im digitalen Raum“.

Dass dem so ist, zeigten die fünf Fachreferate des Tages. Zunächst führte Dr. Alexander Jehn, Präsident der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, in das Thema der Tagung ein. Er präsentierte die drei Säulen der historisch-politischen Bildung im Bundesland: die Erinnerung an die nationalsozialistische und die SED-Diktatur sowie die Demokratiegeschichte als positive Identifikationsmöglichkeit in der hessischen und deutschen Geschichte. Eindringlich forderte Jehn die Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen, um in Zeiten sich wandelnder politischer Diskurse Menschen mit Empathie Wissen über die Geschichte und die demokratischen Strukturen des Landes zu vermitteln.

Dr. Sebastian Schönemann von der Gedenkstätte Hadamar stellte anschließend seine Gedenk- und Forschungseinrichtung, die Teil des Archivs des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen ist, in ihrer nach außen wirkenden Tätigkeit vor. Hierzu schilderte er die Anfragenbeantwortung der Gedenkstätte und die Zusammenarbeit mit dem in Kassel beheimateten LWV-Archiv sowie deren Genesen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur heutigen individuellen Betreuung insbesondere von Angehörigen der fast 15.000 in der Tötungsanstalt Hadamar im Zuge der nationalsozialistischen „Euthanasie“ ermordeten Menschen.

Die beiden folgenden Vormittagsreferate waren konkreten, digitalen Erinnerungsprojekten hessischer Kommunalarchive gewidmet. Zunächst stellte Dr. Katherine Lukat (Stadtarchiv Wiesbaden) das Projekt „Gesher – Perspektivwechsel 1869/1938/1946“ vor, das im vergangenen Jahr von der Jüdischen Gemeinde Wiesbaden in Kooperation mit dem Sachgebiet Gedenkstätten und Erinnerungsarbeit des Stadtarchivs Wiesbaden im Rahmen des Gedenkjahres „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ realisiert wurde. Durch die Augmented und Virtual Reality-Rekonstruktion (AR/VR-Rekonstruktion) der 1938 zerstörten Synagoge am Michelsberg besteht für Besucher der Homepage www.gesher.de die Möglichkeit ein fotorealistisches 3D-Modell der Synagoge zu besuchen, das eine Vielzahl von weiterführenden Informationen in Bild, Ton, Video und Klang zum Bau der Synagoge, zu deren Rolle für die jüdische Gemeinde und die Stadt, zur Zerstörung 1938 und zum Gemeindeleben nach 1945 bis in die Gegenwart enthält. Vor Ort in der jüdischen Gemeinde kann das Modell zudem mittels einer VR-Brille als interaktive künstliche Realität erlebt werden.

Nicole Tödtli (Stadtarchiv Kassel) berichtete anschließend über das Kasseler Gedenkprojekt zur biografischen Erfassung der jüdischen Bürger:innen der Stadt zwischen 1933 und 1945. Basierend auf einem Gedenkbuch, das bereits 1986 vom Stadtarchiv bearbeitet wurde und die Namen vom 3.402 jüdischen Bewohner:innen Kassels zwischen 1933 und 1945 sowie von 1.002 Opfern des Holocaust in der Stadt erfasst hatte. Auf Grundlage eines Magistratsbeschlusses wird diese Datengrundlage nun in eine biografische Datenbank überführt, Fehler behoben, Unklarheiten beseitigt und inhaltlich erheblich aufgewertet. Mittelfristig sollen die Daten über das Internet bereitgestellt werden und auch interaktive Anwendungen erlauben, die Lebenswege der jüdischen Bevölkerung Kassels in der NS-Zeit nachzuverfolgen. Auf diese Weise, so Tödtli, will das Stadtarchiv Kassel eine niederschwellige, zeitgemäße und in der Ansprache auch auf jüngere Menschen ausgerichtete Dokumentation und Würdigung der Opfer der NS-Verfolgung für die Stadt bereitstellen.

Die wissenschaftlichen Aktivitäten des Volksbundes

Den Abschlussvortrag steuerte Dr. Götz Hartmann vom Landesverband Hessen im Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge e.V. bei, der die wissenschaftlichen Aktivitäten des Volksbundes auf den 1.052 hessischen Kriegsgräberstätten mit mehr als 70.000 Gräbern vorstellte. Hartmann präsentierte das Projekt „Geboren in ein bedrohtes Leben. Kinder außerhalb der NS-‚Volksgemeinschaft‘“. Mittels archivischer Quellen wurden im Rahmen einer Ausstellung zur Geschichte des Hebammenberufs in Hessen, die zur Zeit als Wanderausstellung im ganzen Land zu sehen ist, das Schicksal der bewusst zu Tode gebrachten Kinder von Zwangsarbeiterinnen dokumentiert. Die im öffentlichen Bewusstsein wenig präsente grausame Praxis, Zwangsarbeiterinnen aus den besetzten Gebieten Osteuropas und Russlands ihre Kinder zwar auf die Welt bringen zu lassen, um die Einsatzkraft der Arbeiterinnen im Deutschen Reich zu erhalten, diese Kinder aber dann an Verwahrlosung und Unterernährung sterben zu lassen, konnte Hartmann durch die Gräber der Kinder nachzeichnen. Allerdings fielen diese Gräber nicht selten durch die Bundesregierung angeordneten Einfriedungsmaßnahmen in den 1950er Jahren zum Opfer. Allein in der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden existierten bis zu ihrer Aufhebung über 120 solcher Kindergräber.

Die engagierte Diskussion der Teilnehmenden zu den einzelnen Referaten mündete in die sich anschließende Aktuelle Stunde des Archivtages, in der u.a. Peter Maresch (Kreisarchiv Hochtaunuskreis) einen spannenden und offenen Einblick in aktuelle geschichtspolitische Debatten, etwa um eine Straßenbenennung, im Hochtaunuskreis gab. Laura Boßhammer (Archivberatung Hessen) stellte aktuelle Fortbildungs- und Serviceangebote der Archivberatung des Hessischen Landesarchivs vor und informierte über das Bestandserhaltungsprogramm des Landes.