„Auch das Dritte Reich begann mit Verschwörungstheorien, Banalisierungen und Diffamierungen“

Gedenkveranstaltung des Landes Hessen für die Opfer des Nationalsozialismus

28. Januar 2022

Hessen. Wolfgang Schuster, Landrat vom Lahn-Dill Kreis und Präsident des Hessischen Landkreistages, erinnerte an die Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945. Alleine dort sind zwischen 1,1 und 1,5 Millionen Menschen umgekommen. Juden, Sinti und Roma, behinderte Menschen, politisch Andersdenkende und viele mehr. „Bewusst wurde der Veranstaltungsraum in Hofheim gewählt – in einen Raum, der zeigt, wie gut Demokratie funktioniert. Während des Nationalsozialismus schien die Demokratie weit entfernt“, so Wolfgang Schuster. Er dankte Landrat Michael Cyriax und Bürgermeister Christian Vogt für die Nutzung des Raums aber auch Ministerpräsident Volker Bouffier für seine Zusage sowie Rüdiger Amann und das Kammerensemble der Eichendorfschule aus Kelkheim für die musikalische Begleitung: „Im Mittelpunkt stehen die Schüler:innen der Albert-Einstein-Schule Schwalbach am Taunus mit dem Projekt ‚Schule ohne Rassismus‘.“ Schuster hob hervor, wie wichtig gerade heute mit Querdenkergruppen, die sich mit Sofie Scholl vergleichen oder den Davidstern benutzen, eine Erinnerungskultur sei. Schließlich endete er mit einem Zitat von Max Mannheimer, einem Überlebenden des Holocaust: „Ihr seid nicht schuld an dem, was war, aber verantwortlich, dass es nicht mehr geschieht.“

Immer gegen Hass und Gewalt einsetzen

Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier erinnerte daran, dass Auschwitz ein Symbol für Ausgrenzung und systematische Ermordung von Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen und viele mehr ist. „Deshalb gedenken wir heute an vielen Orten und es ist wichtig, die Opfer nicht zu vergessen und sich für die Würde des Menschen einzusetzen. Gegen Hass und Gewalt muss man immer aktiv einstehen“, so Bouffier. Er dankte den Schüler:innen und der Schule, sich mit dem Schicksal der Sinti und Roma auseinandergesetzt zu haben. Nicht nur in Auschwitz, sondern an vielen anderen Orten seien Menschen durch die industriell organisierte Vernichtung getötet worden.

Bouffier weiter: „In einer Nacht wurde das sogenannte Zigeunerlager in Auschwitz mit 5.000 Menschen ausgelöscht.“ In Deutschland sei das Schicksal der Sinti und Roma lange nicht wahrgenommen worden.

Erinnerungskultur ist unerlässlich

Erst in den 80-er Jahren habe sich dies durch den Zentralrat der Sinti und Roma und durch Bundeskanzler Helmut Schmidt, durch die Einbeziehung in die Erinnerungskultur geändert. Sie leben seit Jahrhunderten bei uns aber auch heute erführen sie Rassismus und Ausgrenzung. Bouffier berichtete von einer Begegnung mit einem Betroffenen: „Seine Tochter hat gefragt, warum in der Schule niemand neben ihr sitzen will. Wir müssen sensibel sein. Währet den Anfängen darf nicht nur Ritual sein, sondern Verpflichtung. Demokratie braucht keine Helden aber Menschen die dafür eintreten. Wir sehen, wie Menschen Frevel gegenüber den Opfern zu begehen. Sogar die Feinde dürfen ihre Meinung sagen. Die Grenze ist dort, wo die Grenzen sich verschieben und erst unbemerkt aber schließlich immer mehr die Menschenrechte und die Würde verletzen“, so Bouffier am Ende.

Willi Jahnke, Lehrer an der Albert-Einstein-Schule Schwalbach am Taunus, berichtete, wie wichtig das Projekt „Schule ohne Rassismus“ ist: „Das Schicksal der Sinti und Roma in der Zeit des Nationalsozialismus war in diesem Jahr das Thema.“ Als „Schule der Vielfalt“ hätte sie sich schon oft mit Schülern auseinandergesetzt. „Wie konnte so etwas geschehen, dass 18 Millionen Menschen ihr Leben verloren, weil sie nicht den Idealen der Nazis entsprachen?“ war eine der Fragen, denen hierbei nachgegangen worden sei. Jahnke fragte: „Können sie mit der Zahl etwas anfangen? Die Zahl übersteigt unsere Vorstellungen und insgesamt fielen über 60 Millionen Menschen dem Nazi Terror zum Opfer.“ Dies war die Grundlage – „Nie mehr Ausschwitz“ – zum Unterrichtsthema zu machen. Genähert haben sich die Schüler über Biografien. So könne die Zeit erfahrbar gemacht und das Gesamte dieser unfassbaren Menge sichtbar gemacht werden. Nachbarn, Freunde und Familienmitglieder seien Opfer geworden, weil sich die Gewaltenteilung und Privates in der Diktatur aufgelöst hätten. „Klare Kante gegen Ausgrenzung. Schüler müssen wissen, wie sie sich aufrecht verhalten können“, so der Aufruf von Jahnke.

Junge Vertreter:innen der „Schule der Vielfalt“ kommen zu Wort

Das Schicksal der Sinti und Roma in Zeiten des Nationalsozialismus‘ trugen vier Schüler:innen vor. „Heute lenken wir den Blick auf die Sinti und Roma, die heute noch leiden“, so die erste Schülerin. Bei den „Roma“ handele es sich um eine Volksgruppe, die sich aus Indien in Europa niedergelassen hab. Die „Sinti“ seien eine Teilmenge. Sie hätten eine eigene Sprache, das „Romani“, das sechs Millionen Menschen sprechen und sie beherrschten auch die Sprache des Ortes an dem sie leben. In Deutschland gebe es vier Minderheiten mit einer anderen Sprache. Die friesische Volksgruppe, das sorbische Volk, die deutschen Sinti und Roma und die dänische Minderheit.

Für den deutschen Reichstag waren die Sinti und Roma vogelfrei, in der Weimarer Republik polizeilicher und behördlicher Verfolgung ausgesetzt gewesen. 1927 ist für ganz Preußen die Fingerabdrucknahme aller erfassten Sinti und Roma entschieden worden, in Hessen 1929 anschließend angelehnt an das bayrische „Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen“, das sogenannte „Hessische Zigeunergesetz“ erlassen worden. „Mit den Nürnberger Gesetzen von 1935 institutionalisierten die Nationalsozialisten ihre antisemitische und rassistische Ideologie auf eine juristischer Grundlage. Ab 1938 erlosch der Anspruch auf Schulbildung und es gab die ersten Verhaftungen. 1942 gab Heinrich Himmler den Befehl, alle zu ermorden. Daraufhin wurden 50 Prozent aller Sinti und Roma getötet“, lauteten ihre weiteren Ausführungen.

1956 habe das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Sinti und Roma nicht durch die Nazis verfolgt wurden. Erst 60 Jahre später habe es eine Entschuldigung für dieses Urteil gegeben. Weiterhin erfuhren die Zuschauer: „44 Prozent der Deutschen glauben, dass Sinti und Roma Kriminelle seien und 20 Prozent wissen nicht, dass es den Völkermord gab. Sinti und Roma verbergen oft ihre Herkunft. Sie werden des Kinderraubes und Diebstahl beschuldigt.“ Vielen sei nicht bewusst, dass diskriminierende Begriffe die Ausgrenzung fördern. Viele würden denken, dass nur Juden in Ausschwitz umgebracht worden seien.

„Rinaldo Strauß informierte uns über Ausgrenzung“

„Schule ohne Rassismus“ ist durch eine Ausstellung nach Schwalbach geholt worden. Verfolgung und Stigmatisierung bestünden bis heute: „Rinaldo Strauß, stellvertretender Geschäftsführer des Hessischen Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma, hat uns über Ausgrenzungen informiert und er hat uns gesagt, dass jeder seine Vorurteile immer wieder prüfen muss. Es muss noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden, weil das Leiden nicht ausreichend thematisiert wird.“

Boris Rhein, Präsident des Hessischen Landtages, beendete als letzter Redner die Gedenkstunde. Er lobte das Projekt als geeignet, nicht zu vergessen. „Trude Simonsohn, die viel in Schulen aufgeklärt hat, ist vor kurzem gestorben und es werden bald keine Zeitzeugen mehr da sein“, so Rhein. Zudem betonte er, dass es etwas anderes sei, wenn Betroffene berichten und nicht nur Politiker:innen über das Thema sprechen. Ganze Familien sind abtransportiert worden: „Sinti waren Nachbarn, Arbeitskollegen und plötzlich waren sie ausgegrenzt und verschwanden ohne zurückzukehren. Wie war das, wenn die Wohnungen leergeräumt wurden und sich alle an dem Hab und Gut bereicherten? Es war nicht Raserei oder blindes Wüten“, so Rhein. Es war ein systematisches Programm gewesen und Hitler hat es in seinem Buch „Mein Kampf“ beschrieben. Die Nürnberger Rassengesetzte von 1935 sind von einer Mehrheitsgesellschaft getragen worden, die seit Jahrhunderten darauf trainiert worden sei, wegzusehen, wenn jemand weggebracht wurde.

„Ruhen wir uns aus, sind wir gleichgültig gegenüber unserer Demokratie“

Die Angst komme heute bei den damals Ausgegrenzten wieder und in Parlamenten würden wieder rassistische Gedanken geäußert. Die Zeit des Dritten Reiches werde als „Fliegenschiss“ bezeichnet. „Das Leben von Sinti und Roma ist geprägt von Entpersonalisierungen und Ausgrenzungen. Ruhen wir uns aus, sind wir gleichgültig gegenüber unserer Demokratie. Wer nicht wählt, stärkt die, die wir nicht in den Parlamenten haben wollen“, warnte Rhein. Gemeinsame Grundsätze werden daran gemessen, wie die Gesellschaft mit ihren Minderheiten umgehe. Der Landtagspräsident zitierte Marina Weisband: „Ist ‚einfach nur Mensch sein ein Privileg derer, die durch die Geburt bevorzugt sind oder muss es nicht eine Selbstverständlichkeit für alle sein?‘ Wir müssen gerade jetzt die Selbstverständlichkeit immer wieder thematisieren und in den Parlamenten offen aussprechen.“ Alles habe auch in den 1930er Jahren mit Verschwörungstheorien, Banalisierungen und Diffamierungen begonnen.

Rhein lobte die Schüler:innen, die zeigten, dass sie nicht schweigen oder wegsehen wollen. Er nannte es „erarbeitetes Wissen mit Herz, Verstand und ohne Hass“. Sie gehörten zu jenen Menschen, die künftig entscheiden würden, was aus Deutschland wird.