Im Museum Sinclair-Haus wird „Ewiges Eis“ künstlerisch betrachtet

25. September 2022

Bad Homburg (es/ut). Die Kuratorin und Direktorin des Museums Sinclair-Haus, Dr. Christina Anna Lanzl: „Mit dieser Ausstellung ermöglichen Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt tief berührende Einblicke in die schützenswerten eisigen Regionen der Erde. Die tosende Energie eines kalbenden Gletschers, dokumentiert und visualisiert durch die Technik einer Wärmebildkamera oder mithilfe der Großformatfotografie? Und wie können wir das ewige Eis angesichts der Klimaerwärmung schützen?“ Zusammen mit Kurator Moritz Ohlig und Claudia Praml, Leiterin der Kommunikation, und dem Team des Museums ermöglichte sie viele Einblicke in die Ausstellung.

Diese zeigt die Weite abgeschiedener Gletscherlandschaften. Es wird eine Verbindung zwischen Klimawandel und künstlerischer Sichtweise hergestellt, lädt die Besucher:innen ein, die Kältezonen der Erde mit ihren einmaligen Landschaften und Lebensräumen sowie verschiedene Formen von Eis und Schnee zu erkunden. 19 künstlerische Positionen verdeutlichen dabei, wie nah beieinander überwältigende Schönheit und auch Zerbrechlichkeit der schwindenden Eismassen liegen.

Die Künstler

Es sind Kunstwerke und Rauminstallationen von Ignacio Acosta, Brian Adams, Olaf Otto Becker, Julian Charrière, Olafur Eliasson, Nathalie Grenzhaeuser, Institut für Digitale Museumsmedien e. V. unterstützt vom Senckenberg Naturmuseum, Tiina Itkonen, Britta Marakatt-Labba, Tyrone Martinsson, Ivan Murzin, Mariele Neudecker, Aka Niviâna und Kathy Jetñil-Kijiner, Wilhelm Scheruebl, Susan Schuppli, Doug und Mike Starn sowie Thomas Wrede zu sehen.

Blickwinkel auf die Welt

Von der Arktis zur Antarktis, von Sibirien bis zu den Anden bieten die zeitgenössischen Arbeiten vielfältige Blickwinkel auf „ewiges Eis“: epische Landschaftsaufnahmen der letzten Jahre, eindringliche historische Fotodokumentationen schmelzender Kryosphäre, Porträts von Menschen und ihren Lebensräumen im Eis oder Mikroaufnahmen von Schneekristallen.

Tiina Itkonen, Home 15, Savissivik, 2018. – Fotografie: Tiina Itkonen

Ergänzend zur Kunst und Gegenwartskultur der nördlichen Breiten und alpinen Zonen nimmt eine digitale Visualisierung geologischer Erdzeitalter in Mitteleuropa am Beispiel des Taunusgebirges die Betrachter mit auf eine Zeitreise vom Mammut bis ins 22. Jahrhundert. „Ewiges Eis“ zeigt auch individuelle Ansichten und Einsichten in indigene Kulturräume, in denen die Anpassungsfähigkeit der Bewohner:innen an ein extremes Klima notwendige Voraussetzung für das tägliche Miteinander ist.

Ein Kunstwerk von Doug und Mike Starn mit dem Titel „alleverythingthatisyou muytiob“ aus dem Jahre 2006 zeigt die zarte Beschaffenheit einzelner Schneeflocken. Diese bizarren Gebilde, die Schutz durch Unterkünfte wie Iglus genauso entstehen lassen, wie die Gefahr durch Lawinen oder Eisberge. Einzeln sind sie als Schneekristalle Kunstwerke der Natur.

Von Susan Schuppli stammt eine Fotografie aus dem Jahr 2021, die Farbspiele der Natur auf den Gletschern der arktischen Archipele im Süden der Inselgruppe Spitzbergen zeigt. Noch vor 40 Jahren war Spitzbergen von Touristen unberührt aber internationales Gebiet unter norwegischer Verwaltung. Hier wurde von Norwegen und der Sowjetunion Kohle abgebaut und Forschung betrieben und vermutlich wurde die Region militärisch genutzt. Dort gab es das ewige Eis, das nun mehr und mehr verschwindet. Eindrucksvoll dargestellt, wie Schelfeis kalbt und einsam durch das Meer gleitet.

Verflechtung von Kunst und Wissenschaft

Das globale Interesse, die extremen Bedingungen, die weiten Anreisewege und damit verbundene hohe Kosten machen für Kunstschaffende ein methodisches Vorgehen und eine langfristige Planung für ihre Arbeiten über Gletscher und Polregionen unabdingbar. Deshalb ist die ungewöhnlich große Verflechtung von Kunst und Wissenschaft sicher kein Zufall: Von den eingeladenen Künstler:innen lehren etwa Olafur Eliasson, Daniel Gilgen vom Institut für Digitale Museumsmedien, Tyrone Martinsson und Susan Schuppli an etablierten Universitäten. Im Rahmen von interdisziplinären Forschungsprojekten nehmen Künstler:innen, darunter Nathalie Grenzhaeuser, Mariele Neudecker und Susan Schuppli, regelmäßig an ausgewiesenen wissenschaftlichen Forschungsreisen teil.

Verflechtungen von Mensch und Natur

Künstler:innen aus indigenen Kulturen bieten in der Ausstellung beeindruckende Einblicke in Vergangenheit, Gegenwart und bedrohte Lebensräume. In unterschiedlichsten Medien bringen sie den Betrachtenden zentrale Lebensinhalte ihrer Heimat und dem Leben in Eis und Schnee kreativ näher. So erzählen die erlesenen Stickereien, wie „Cirkeln är sluten“ (Der Kreis ist geschlossen) aus dem Jahr 2020 der schwedischen Sami-Künstlerin und documenta-14-Teilnehmerin Britta Marakatt-Labba in ihrer eigenen Bildersprache die Geschichte(n) der lappländischen Rentierhalter des hohen Nordens. Auch bei ihrem Werk „The Lake That Was Emptied“ (Der See ist geleert), ebenfalls aus dem Jahr 2020, lohnt sich ein näherer Blick auf ihre wunderschöne Technik und dem Gesamtwerk.

Brian Adams, I am Inuit, 2015. – Fotografie: Brian Adams

Für seine Fotoserie „I Am Inuit“ aus dem Jahr 2015 bereiste der zur Volksgruppe der Inupiaq gehörige Fotograf Brian Adams Alaska, porträtierte fotografisch seine Landsleute und schrieb ihre Geschichten auf. Entstanden ist ein vielstimmiges Porträt, das einen Einblick in das Leben der Inuit gibt. Als Beispiel sei der als Elvis Presley posierende Mann genannt.

Eine weitere porträtierte Frau erzählte die Geschichte, dass sie nicht in die Schule durfte, weil dort Englisch gesprochen werden musste. Sie sprach nur Inupiaq. „Sie sollte 100-mal aufschreiben: Ich werde in der Schule nicht mehr die Eskimo-Sprache sprechen. Den Zettel gab sie ab und ging nie wieder hin“, so Dr. Lanzl. Sie lernte Korbflechten und besserte damit das Familieneinkommen auf. Später lehrte sie 20 Jahre lang an der Schule in ihrer Muttersprache.

Daneben ermöglichen die Landschaftsaufnahmen von Brian Adams vielfältige Eindrücke vom Leben im Eis, sei es ein dahingleitender Hundeschlitten in der Ferne, ein Eisbär in sicherem Abstand oder die Neubausiedlung am Berghang.

Künstlerisches Schaffen vor Ort

Die Poetin Kathy Jetñil-Kijiner und die Schriftstellerin Aka Niviâna bilden ein Duo: Aus völlig unterschiedlichen Regionen stammend, wollten sich beide künstlerisch zu ihrem bedrohten Lebensraum äußern – auf Grönland ändert er sich durch das schmelzende Eis, wohingegen der steigende Meeresspiegel auf den flachen Marshall-Inseln Land und Menschen bedroht. Das gemeinsam gestaltete Kurzvideo (Rise: From One Island To Another) führt die Betrachtenden auf sehr poetische Weise in die heimatliche Umgebung der beiden Frauen, verbunden mit dem dringenden Appell an alle Erdbewohner, ihre Verhaltensweisen zugunsten von Natur und Klimaschutz zu ändern.

Julian Charrière, The Blue Fossil Entropic Stories I, 2013. – Fotografie: Julian Charrière, VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Reisende ins Eis

Eine große Anzahl von Werken über die Kältezonen der Erde entsteht auf Reisen, wobei die Schaffenden unter den extremen Bedingungen ihrer Arbeitsorte oftmals an physische und psychische Grenzen stoßen. Ein Beispiel dafür ist die „entropische“ Fotoserie, entstanden auf einer Polarnacht-Expedition Julian Charrières im Eismeer rund um Island, wo er in einem Akt ästhetischen Protests acht Stunden lang auf einem schwimmenden Eisberg mit einer Gaslampe das Eis ‚schmolz‘. Das physikalische Gesetz der Entropie besagt, dass sich die Temperatur zwischen einer kalten und einer warmen Ausdehnung/Materie langfristig angleicht – fatal im Hinblick auf das Weltklima.

Die langfristige Veränderung von Eislandschaften steht im Fokus von zwei Fotoserien: Olafur Eliassons „The Glacier Melt Series 1999/2019“ und Tyrone MartinssonsTime Series of all Glaciers in Magdalenefjorden“, Svalbard 1818–2016. Ersterer dokumentierte auf zwei Rundreisen die Gletscher seiner isländischen Heimat im Abstand von 20 Jahren, gesehen jeweils vom gleichen Standort. Deutlich sichtbar wird bei diesem methodischen Vorgehen der Rückgang der Eismassen. Ebenso systematisch erstellte Martinsson mit Archivmaterial eine historische Fotosequenz aller Gletscher im äußersten Nordwesten der Insel Spitzbergen seit Anfang des 19. Jahrhunderts, die auch die Landnutzungsänderung aufzeigt.

Ebenfalls auf Spitzbergen fotografierte Nathalie Grenzhaeuser bei mehreren Arbeitsaufenthalten die vielfältigen wissenschaftlichen Einrichtungen sowohl in Farbe als auch in Schwarz-Weiß, immer mit sorgfältigem Augenmerk auf Licht und Ästhetik.

Tiina Itkonen, Untitled (Icefjord), Ilulissat, Greenland Landscape Series, 2016. – Fotografie: Tiina Itkonen

Die Finnin Tiina Itkonen bereist seit Jahren die Westküste Grönlands, wo sie auf über 1.500 Kilometern vom Hundeschlitten, aus der Luft und auf dem Meer fotografierte. Von bewegender Schönheit sind ihre Aufnahmen isoliert stehender Behausungen und des naturgewaltigen Ilulissat-Eisfjords, einer sechs Kilometer breiten und rund 55 Kilometer langen Eisberglandschaft, die seit 2004 Unesco-Welterbe ist.

Auch den in Bayern lebenden Fotografen Olaf Otto Becker zog es zum Ilulissat, wo er mit seiner Großbildkamera die immensen Gletscher von der Landseite aus aufnahm und als Triptychon verewigte. Weder Beckers Landblick noch Itkonens Sicht vom Meer geben wirklich Aufschluss über die tatsächlichen Größenverhältnisse des Eisfjords – Teil der Faszination dieses Landstrichs.

Im Gegensatz dazu dokumentierte Thomas Wrede den Eingriff in die Natur und dessen Folgen unter anderem in Gletscherregionen der Schweiz. Dort soll der Rhonegletscher durch Verhüllung mit Planen vor der Sonneneinstrahlung geschützt werden, um von Menschenhand geschaffene Eishöhlen als Touristenattraktion zu erhalten. Der Erfolg dieses Experiments bleibt aus.

Programm, Vermittlung, Podcast

Claudia Praml weist ausdrücklich daraufhin: „Zum ersten Mal seit zwei Jahren haben wir wieder eine Ausstellung mit Begleitprogrammen ohne Einschränkungen. Reisen Sie mit uns ins Eis, bei Konzerten, Lesungen, im Atelier, bei einer Führung oder bei Ihrem persönlichen Ausstellungsbesuch. Tickets und Informationen in unserem neuen Ticket-Shop unter: tickets.museum-sinclair-haus.de.“ (Anmerkung der Redaktion: Die Termine werden zeitnah in unserem Veranstaltungskalender eingetragen.)

Seit Sonntag, dem 25. September 2022, ist die Ausstellung „Ewiges Eis“, kuratiert von Dr. Christina Anna Lanzl und Moritz Ohlig, bis zum 12. Februar von Dienstag bis Freitag von 14 bis 19 Uhr, an Wochenenden und Feiertagen 10 bis 18 Uhr, am 25. und 26. Dezember 2022 und am 1. Januar 2023 von 12 bis 18 Uhr. Tickets gibt’s unter https://tickets.museum-sinclair-haus.de/.

Die Ausstellung wird durch Podcasts begleitet https://kunst-und-natur.de/museum-sinclair-haus/programm/podcast/artnvielfalt-ewiges-eis

Stiftung Kunst und Natur

Das Museum Sinclair-Haus ist Teil der Stiftung Kunst und Natur gGmbH, die in Bad Homburg und Nantesbuch (Oberbayern) Räume für die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Kunst und Natur bietet.