Grundgesetz-Lesung zum 75. „Geburtstag“

Stadtverordnetenvorsteher Georg Reuter, Erste Stadträtin Heike Seibert, die Hessische Sozialministerin Heike Hofmann und Ludger Engelhardt-Zühlsdorff, Vorstand des Caritasverbandes Main-Taunus e.V. (v.l.n.r.) - Foto: ak

3. Juni 2024

Hattersheim (ut). Im Rahmen der Veranstaltungen der KulturRegion FrankfurtRheimMain im 75. „Geburtsjahr“ des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland wurde auch in Hattersheim aus diesem unser ganzes Land besonders prägenden Buch (vor-)gelesen. Am Sonntag, dem 26. Mai, traf man sich zu einer Matinee im Haus St. Martin, einer als Treffpunkt für Austausch und Kultur bekannten Einrichtung der Wohnungslosenhilfe des Caritasverbandes Main-Taunus e.V. Wie schon oft hatte sich die Stadt Hattersheim mit dem Haus St. Martin als Veranstalter zusammengetan, um den wunderbaren Morgen zu gestalten, an dem nicht nur der „Geburtstag“ unseres Grundgesetztes gefeiert wurde, sondern an welchen verschiedenen Personen aus Politik und Gesellschaft den für sie selbst wichtigsten Artikel des Grundgesetzes lasen und vorstellten. Sehr heiter und charmant moderiert wurde die Matinee von Magdalena Zeller, der Projektleiterin von „Geist der Freiheit“ der KulturRegion FrankfurtRheinMain. Auch die gekonnt ausgesuchten und vorgetragenen musikalischen „Zwischenspiele“ von Michael Zachcial von der Künstlergruppe „Die Grenzgänger“ machten den Vormittag zu einem für die vielen Gäste schönen Erlebnis.

Ludger Engelhardt-Zühlsdorff, Vorstand des Caritasverbandes Main-Taunus, freute sich, außer der neuen hessischen Ministerin für Arbeit, Integration, Jugend und Soziales, Heike Hofmann, auch den Hattersheimer Stadtverordnetenvorsteher Georg Reuter, die Erste Stadträtin Heike Seibert, Karin Schnick vom Vorstand Bündnis 90/Die Grünen sowie Erhardt Scherfer, einen langjährigen Freund des Hauses St. Martin, als Grundgesetz-„Vorleser“ begrüßen zu können. Und selbstverständlich las auch Klaus Störch, der Einrichtungsleiter des Hauses, seinen „Lieblingsartikel“ vor.

Auch Stadtverordnetenvorsteher Georg Reuter begrüßte die Gäste, er freute sich besonders darüber, dass sich darunter einige Hattersheimer Stadtverordnete und Parteienvertreter befanden. Er wies darauf hin, dass unser Grundgesetz eine doppelte Funktion habe: „Es legt nicht nur Rechte fest, sondern gibt auch Schutz.“ Reuter stellte fest, dass sich das deutsche Grundgesetz inzwischen in mancher Krise bewährt hat, aber er machte auch deutlich: „Eine Demokratie ohne Beteiligung der einzelnen Menschen ist nicht überlebensfähig.“

„Artikel 1 ist oberste Norm“

Für Sozialministerin Heike Hofmann hat der Moment, in welchem vor 75 Jahren Konrad Adenauer das deutsche Grundgesetz verkündete, eine neue Ära für Deutschland markiert. Auch wenn es damals zunächst als „Provisorium“ betrachtet wurde, ist es noch heute „ein Meisterstück unserer Geschichte“ und das wegweisende „zentrale rechtliche Dokument, das die grundlegenden Prinzipien und Werte der deutschen Gesellschaft festlegt“. Hofmann hob zunächst den durch die Ewigkeitsklausel geschützten Artikel 1 des Grundgesetztes heraus: „Die Würde des Menschen ist unantastbar – das ist so wunderbar formuliert, gerade mit dem Hintergrund der deutschen Geschichte. Dies steht nicht nur am Anfang des GG, sondern ist vielmehr Ausgangspunkt und oberste Norm für alles, was im folgenden Text entfaltet, wird“, erklärte sie.

Dass diese These im GG „in Stein gemeißelt“ ist, hält die Sozialministerin besonders an einem Ort wie dem Haus St. Martin für sehr wichtig. Denn das es in Hessen zurzeit mehr als 22.500 obdachlose Menschen gibt, findet sie sehr bedrückend. Sie stellte die Frage: „Wird nicht in seiner Menschenwürde verletzt, wer nicht in einer Wohnung leben kann?“ Nach ihrer Ansicht sei es in Anbetracht der Folgen, die ein Leben ohne Wohnung für Menschen hat, durchaus zu diskutieren, ob Art 13 des GG „Die Wohnung ist unverletzlich“ nicht nur als Grundrecht, sondern auch als Anspruchsrecht anzusehen sein sollte.

Hessens Sozialministerin Heike Hofmann. – Foto: ak

Das in Artikel 20 Abs. 1 GG festgelegte Sozialstaatsprinzip zeige auf, dass unser Staat die Verantwortung für das soziale Wohlergehen aller seiner Bürger hat. „Ich denke, wir müssen uns aktiv für eine gerechtere Gesellschaft einsetzen, in der niemand aufgrund von Armut oder Wohnungslosigkeit ausgegrenzt wird. Die Arbeit, die Sie hier im Haus St. Martin leisten, ist ein wichtiger Beitrag zu einer gerechteren Gesellschaft!“ Als einen ihrer liebsten Artikel las sie Artikel 6 vor, der sich auf „Ehe Familie, Kinder“ bezieht. Dabei betonte Heike Hofmann, dass dies ein „definitiv unterschätzter“ Artikel des GG ist, denn: „Darin geht es um die Erziehung derer, die unsere Demokratie weitertragen sollen!“

In ihrer Überleitung zu den weiteren Lesungen aus dem Grundgesetz sorgte Magdalena Zeller mit einer Aufzählung, wie oft sie am Morgen schon ihre grundgesetzlich geschützten Rechte in Anspruch genommen hat, für Heiterkeit im Publikum: dass ihr schon etwa das morgendliche Zeitungslesen durch Artikel 5 „Freiheit der Meinung, Kunst und Wissenschaft“ garantiert wurde, und dass ihr Gespräch mit der Nachbarin im Flur durch das grundgesetzlich verbriefte Recht auf freie Meinungsäußerung und auf Versammlungsfreiheit nicht genommen werden darf sowie auch ihre morgendliche Fahrt von Darmstadt nach Hattersheim durch das Grundrecht aus Artikel 11 „Freizügigkeit im gesamten Bundesgebiet“ geschützt ist, hatte man sich so noch nicht ins Bewusstsein gerufen.

Erinnerung an „vorgrundgesetzliche“ Zeit

Erhardt Scherfer brachte den Gästen Art. 5 GG „Freiheit der Meinung, Kunst und Wissenschaft“ zu Gehör. Er schilderte nicht nur sich selbst als Künstler als „besonders sensibel in dieser Beziehung“, sondern erinnerte auch an frühere Veranstaltungen im Haus St. Martin, in denen es zum Beispiel um „verbrannte“ oder verbotene Kunst in „vorgrundgesetzlicher“ Zeit ging. Dass Artikel 5 durchaus keine Selbstverständlichkeiten garantiere, zeigte er mit Blick etwa nach China, Nordkorea, Russland oder auch in die Türkei auf. „Diese Staaten haben zwar die Menschenrechtskonvention unterschrieben, schränken aber dennoch die Redefreiheit und die Kunstfreiheit massiv ein“, erklärte Scherfer, „trotzdem dürfen wir hier nicht dem Irrtum unterliegen, dass dieser Artikel allein diese Rechte schützen kann, wir müssen sie selbst auch aktiv schützen!“

Artikel 3, „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“, des Grundgesetzes wurde von der Hattersheimer Ersten Stadträtin Heike Seibert vorgelesen. Sie begann ihre Bemerkungen dazu mit einem Augenzwinkern: „Wer’s glaubt, wird selig ist man versucht dazu zu sagen“, scherzte sie und rief einige offensichtliche Ungleichheiten ins Gedächtnis, die sich allein durch die sehr unterschiedliche Verteilung von Vermögen ergeben. Dennoch ist sie der Ansicht, dass unser Grundgesetz vor 75 Jahren mit seinem Gleichheitsgrundsatz den Grundstein dafür gelegt hat, dass in unserem Land alle Menschen die gleichen Rechte haben und für alle das gleiche Recht gilt. „Das ist für mich der herausragende Artikel des Grundgesetzes. Allein durch seine Einfachheit der Worte mit der gleichzeitigen Komplexität seiner Bedeutung“, sagt die Erste Stadträtin überzeugt, „denn er stellt klar: ein Wohnungsloser und etwa ein Amtsträger sind vor unserem Gesetz gleich!“

Dass der zweite Absatz des Artikels, für sie selbst ganz besondere Bedeutung hat, ergibt sich auch aus dem Amt, welches sie innehat. „Der Kampf um Freiheit und Demokratisierung war über Jahrzehnte ein Kampf für die Rechte der männlichen Hälfte der Bevölkerung. Bis die Frauen es selbst in die Hand nahmen“, erinnerte sie, „auch vor 75 Jahren wurde um den Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ hart gerungen. Wir verdanken ihn Elisabeth Seibert, einer der vier „Mütter“ des Grundgesetzes.

Für die Gleichstellung gibt es noch viel zu tun

Zur Frage, wieviel es im Hinblick auf die Gleichstellung von Männern und Frauen auch heute noch zu tun gibt, zitierte Heike Seibert die Volksschauspielerin Heidi Kabel: „Gleichberechtigung ist dann gelungen, wenn auch einmal eine total unfähige Frau in eine verantwortliche Position aufgerückt ist.“ Erst wenn Frauen und Männer – ohne auf Beruf oder Familie verzichten zu müssen – wirklich frei entscheiden können, wo sie ihre Prioritäten setzen möchten, sei das Ziel der Gleichstellung erreicht. Dennoch zieht sie für unsere Zeit ein positives Fazit aus den Auswirkungen des Artikel 3 des GG: „Heute darf ich zu Ihnen als Erste Stadträtin dieser wundervollen Stadt sprechen. So selbstverständlich und doch damals revolutionär!“

Sitzend in der ersten Reihe (v.l.n.r.): Stadtverordnetenvorsteher Georg Reuter, Erste Stadträtin Heike Seibert, Klaus Störch, Einrichtungsleitung Haus Sankt Martin, Ludger Engelhardt-Zühlsdorff, Vorstand CV MT, Karin Schnick vom Vorstand Bündnis 90/ Die Grünen und Erhardt Scherfer. – Foto: ak

Artikel 21 GG, „Parteien“, wurde von Klaus Störch vorgelesen. Für ihn ist es besonders wichtig, dass dieser Grundgesetzartikel festschreibt, dass Parteien in Deutschland der „inneren Ordnung entsprechen“ müssen und dass die Absätze 2, 3 und 4 die Möglichkeiten aufzeigen, die bestehen, wenn offenkundig wird, dass eine Partei das nicht tut. „Gerade die jüngste Vergangenheit zeigt, dass es wichtig ist, dass unsere Demokratie wehrhaft ist und wir uns das Recht nehmen können, sie zu verteidigen“, zeigte sich Störch überzeugt.

Zum Abschluss des „Vorlese-Reigens“ nahm der Hattersheimer Stadtverordnetenvorsteher Georg Reuter eines der klitzekleinen Grundgesetzbücher, die für jeden Gast der Veranstaltung auf seinem Stuhl bereitlagen, in die Hand, um daraus seinen Lieblingsartikel 20 GG, „Verfassungsgrundsätze – Widerstandsrecht“, vorzulesen. Er empfindet es zum einen als sehr wichtig, dass der Staat durch diesen Artikel verpflichtet ist, den sozialen Gedanken zu unterstützen, zum anderen, dass hier jedem Deutschen ein Widerstandsrecht gegen „denjenigen, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen“ zugebilligt wird. „Das ermöglicht es auch einem Organ wie der Stadtverordnetenversammlung schon im Vorfeld etwas zu unternehmen, wenn die Demokratie in Gefahr ist“, begrüßte Reuter. 

246 GG-Änderungen in 75 Jahren

Nachdem Magdalena Zeller in einem kleinen Quiz zusammen mit den Gästen herausgearbeitet hatte, wie viele Grundgesetzänderungen es seit 75 Jahren gab – es waren trotz der hohen Änderungshürden immerhin 246, die letzte im Jahr 2022 – las Karin Schnick ihren „Lieblingsartikel“ 20 a, „Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Tiere“, der erst seit 2002 in seiner jetzigen Form als Staatsziel im GG steht, vor. „Klimaschutz ist nicht alleinige Aufgabe einer Partei, sondern muss uns alle angehen. Wir stehen vor der größten Herausforderung unserer Zeit und müssen gemeinsam dafür sorgen, dass der Rückhalt in unserer Gesellschaft dafür wächst“, erinnerte sie, „wir sollten uns mehr mit den Inhalten unseres Grundgesetzes beschäftigen, auch mit Art. 20 a, und uns dabei der Verantwortung für die künftigen Generationen bewusst sein.“

Vielleicht mit einem Blick auf die bevorstehenden Europawahlen rief Magdalena Zeller noch in Erinnerung, dass schon vor 75 Jahren unser Grundgesetzt auch auf Europa ausgerichtet war. In seiner Präambel wurde festgehalten, dass das deutsche Volk „von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ sich diese Verfassung gegeben hat. Auch in Art 23 wird die Verpflichtung Deutschlands, bei der Entwicklung der Europäischen Union mitzuwirken, noch einmal festgeschrieben.

Der interessante Vormittag im Haus St. Martin endete gutgelaunt mit der „Ode an die Freude“, die Michael Zachcial zum allgemeinen Mitsingen anregend gekonnt mit seiner Gitarre intonierte.